Blinde Richter

 

Justitia, die Göttin des Rechts, ist blind. Man kennt sie aus zahlreichen allegorischen Darstellung als weibliche Figur mit Schwert, Waage und verbundenen Augen.


Trotzdem wird es manchen Angeklagten überraschen, wenn er in der Wirklichkeit der Gerichtspraxis tatsächlich einem blinden Richter gegenübersteht. Damit ist durchaus zu rechnen, und so wird die Frage, ob ein Blinder als Richter in einer Strafsache mitwirken dürfe, schon seit vielen Jahren kontrovers diskutiert. Der 5. Strafsenat des BGH hat hierzu klarsichtig erkannt, dass die Fähigkeit, Gesprochenes zu verstehen und zu verarbeiten, durch mangelnde Sehfähigkeit nicht beeinträchtigt sei (BGHSt. 5, 354).


Dass auch optische Eindrücke für die Entscheidung bedeutsam sein könnten, werde dadurch ausgeglichen, dass der Blinde mit Hilfe seines geschärften Gehörsinns manches akustisch wahrnehme, was dem Sehenden entgehe. (Auf letzteres Argument sollten sich alle, die wegen fortschreitender Sehschwäche Ihren Führerschein abgeben sollen, mit Nachdruck berufen). Zu Gunsten des blinden Richters wird auch ins Feld geführt, dass der Blinde eingeübt sei, sich ein Urteil ohne Ansehung der Person zu bilden (Schulze, MDR 1988, 736). Das mag zutreffen, offen bleibt allerdings die Frage, ob dieses Urteil auch richtig ist.


Trotz der Vorzüge, die dem blinden Richter von seinen Apologeten beigemessen werden, hat das Bundesverfassungsgericht keinen Verstoß gegen den Gleichheitssatz des Grundgesetzes darin erkennen können, dass das Landgericht Leipzig einen Beschwerdeführer wegen seiner mangelnden Sehfähigkeit von der Schöffenliste gestrichen hatte (2 BvR 577/01). Das sei sachgerecht und daher frei von Willkür. Jedes Mitglied eines Spruchkörpers müsse sich auch einen optischen Eindruck von den Verfahrensbeteiligten machen können, das erfordere der im Strafprozessrecht geltende Unmittelbarkeitsgrundsatz, meinen die Verfassungsrichter. Damit ist Peter Reichenbach, Richter am Amtsgericht Meppen, gar nicht einverstanden und verweist darauf, dass auch die Vernehmung optisch abgeschirmter V-Leute ebenso zulässig sei, wie die Verlesung von Vernehmungsprotokollen „gesperrter" Zeugen (NJW 2004, S. 3160). Von Unmittelbarkeit könne hierbei auch keine Rede sein. Der Ausschluss blinder Richter widerspräche daher dem Diskriminierungsverbot.


Letztlich dürften sich Pro und Kontra wohl aufheben. Für manchen Angeklagten könnte es durchaus vorteilhaft sein, wenn ihn der Richter nicht sieht. Einen Vorwurf wird man einem blinden Richter außerdem nie machen können; Er habe „sehenden Auges" ein Fehlurteil gefällt.


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© Dr. Thomas M. Hellmann